Aufgeben ist eine Option

Aufgeben ist eine Option.

Bitte was?

Ja, das dachte ich mir auch, als meine Psychologin mir das verkündete.

Für mich war aufgeben niemals eine Option. Zu der Zeit, als sie das in der Therapie vorschlug, war meine Depression, würde ich mal behaupten, an ihrem Tiefpunkt. Ich befand mich im Abijahr und der Führerschein, den ich gerade versuchte zu machen trieb mich an meine Grenzen.

Für mich war mein Führerschein, obwohl ich meine Theorieprüfung beim ersten Anlauf und ohne Fehler bestand, der absolute Horror. Ich hatte den Druck ihn überhaupt zu machen, da in der Schule nur noch von Führerscheinen gesprochen wurde. Da ich bald 18 wurde und auf dem Land lebte, war er auch dringend notwendig. In der Schule erzählte jeder, dass es ihm Spaß machte, dass er die Prüfung bestanden hatte und schon bei der soundsovielten Stunde war. Ihnen schien es überhaupt keinen Druck zu machen, für sie war es ein Hobby, das sie mal eben in ihrer Freizeit betrieben. Für mich war es das Gegenteil. Es war die Hölle auf Erden. Warum?

Natürlich spielt da denke ich die Depression ein bisschen mit rein. Auch Dinge, die ich liebte machten mir keinen Spaß mehr. Ich quälte mich durch jeden Tag, jede Bewegung war anstrengend, ich zählte die Stunden bis ich wieder ins Bett gehen konnte, ich versteckte mich alle fünf Minuten auf der Schultoilette, um zu weinen. Ich bestand auch all meine Klausuren sogar recht gut, aber das mit den größten Mühen, meine Konzentration war ziemlich im Eimer. Ich war nicht mehr wirklich da, ich funktionierte nur noch irgendwie. Ich weiß nicht wie ich das alles meisterte.

Dementsprechend verlief auch mein Führerschein. Ich schlug mich tapfer. Finde ich. Jede Stunde aufs neue nahm ich mir vor mein bestes zu geben, um meinen Fahrlehrer nicht zu enttäuschen. Außerhalb der Stunden ging ich gedanklich immer wieder alles durch, las mir nochmal alles im Buch durch und sah mir die Strecken an. Meine Mutter fuhr sogar mit mir auf den Verkehrsübungsplatz.

Doch mein Fahrlehrer war nicht besonders geduldig mit mir. Ich hatte das Gefühl er hasste mich.

„Bei dir sehe ich total schwarz, du schaffst den Führerschein nicht.“

„Wenn der Schüler sich keine Mühe gibt, dann möchte man ihn irgendwann auch nicht mehr unterrichten“

„Die Stunden mit dir sind sinnlos, du solltest den Führerschein abbrechen.“

„Was denkst du dir bloß, wenn du hier bist?“

Tja… Ich denke das muss ich nicht lange kommentieren. Außer, dass ich nach jeder Stunde hoffnungsloser und vor allem verzweifelter wurde. Ich gab mir Mühe, ich tat alles, um eine gute Fahrstunde hinter mich zu bringen. Und ganz ehrlich (ohne abwertend klingen zu wollen) : Es gab schlechtere Leute als mich. Ich war nicht die beste und es dauerte auch ein wenig, bis ich es raus hatte. Aber ich hatte nicht mehr Fahrstunde als die Anderen. Die Prüfung bestand ich beim ersten Mal auf Anhieb. Dennoch war es ein sehr sehr schwieriger Weg. Nach jeder Fahrstunde bestand der restliche Tag darin, dass ich weinte und zu nichts mehr im Stande war. Die Nächte davor konnte ich nicht schlafen, wenn ich nach der Schule eine Stunde hatte, konnte ich mich noch weniger konzentrieren als davor.

Mein Herz raste, meine Hände wurden schwitzig und kalt, ich zitterte und wurde ganz kleinlaut. Teilweise höre ich heute die Stimme meines Fahrlehrers immer noch, wenn ich fahre, kann sie aber inzwischen einigermaßen ausblenden.

Natürlich besprachen wir das Thema in der Therapie. Und da sagte meine Therapeutin: Was, wenn du einfach mit dem Führerschein aufhörst und ihn vielleicht in einiger Zeit erst fertig machst?

Daran hatte ich noch kein einziges Mal gedacht. Fahrlehrer wechseln? Ja. Fahrschule wechseln? Ja. Alles so schnell wie möglich durchziehen? Ja. Aber aufhören? Einfach so aufgeben? Nein.

Dabei war es so sinnvoll sich mal darüber Gedanken zu machen. Denn:

Was bedeutet aufgeben überhaupt?

Der Duden gibt verschiedene Definitionen für „aufgeben an“:

  • mit etwas aufhören
  • sich von etwas trennen; auf etwas verzichten
  • als verloren oder tot ansehen, keine Hoffnung mehr auf jemanden setzen
  • nicht weitermachen; aufhören
  • ein Spiel, einen Wettkampf vorzeitig abbrechen
  • zur Weiterleitung, Beförderung, Bearbeitung übergeben
  • als Schularbeit auftragen
  • als Aufgabe stellen, zur Auflösung vorlegen
  • auferlegen; auftragen, etwas zu tun
  • auffüllen
  • zu verarbeitendes Gut auf ein Fördergerät geben

Du siehst aufgeben hat ganz viele Bedeutungen. Bedeutet aufgeben wirklich immer gleich als verloren oder tot ansehen? Früher dachte ich das.

Aber aufgeben kann auch sich von etwas trennen bedeuten. Ich trenne mich vorerst von dem Führerschein. Dies bedeutet nicht, dass ich ihn niemals machen werde. Es bedeutet nicht, ich sehe den Führerschein als tot an.

Es kann auch im übertragenen Sinn bedeuten: als Aufgabe stellen. Ich stelle mir den Führerschein als Aufgabe. Er steht nicht auf meiner 1. Prioritätsliste, ich habe ihn im Hinterkopf. Aber jetzt eben nicht. Jetzt habe ich wichtigere Aufgaben. Zum Beispiel an meiner Gesundheit zu arbeiten oder mein Abitur zu machen.

Ganz im Übertragenen Sinn kann es noch heißen: zu verarbeitendes Gut auf ein Fördergerät geben. Das kann man auch mit dem Führerschein machen. Oder mit sich selbst. Zuerst komme ich, ich fördere mich und meine Gesundheit und dann kommt erst das Gut „Führerschein“ auf das Förderband.

Das lässt sich natürlich auf alles übertragen und nicht nur auf den Führerschein.

Wenn sich Türen schließen, dann öffnen sich neue.

Ist aufgeben so negativ? Wie viel gewinne ich, wenn ich eine Sache aufgebe?

Ein weiteres Beispiel: Eine Freundin von mir, welche auch hier schon einen Gastbeitrag verfasst hat (Wie viel wiegt mein Leben), hat kurz vor dem Abitur beschlossen, ein Jahr Pause zu machen und ihr Abitur ein Jahr später nachzuholen. Sie hat das „aufgeben“ also als eine Option angesehen. Sie hat aufgegeben. Und wisst ihr was? Das war die beste Entscheidung, die sie jemals getroffen hat. Sie hat sich für sich selbst entschieden. Sie hat gar nicht aufgegeben. Dieses „aufgeben“ oder „sich selbst fördern“ hat dazu geführt, dass sie ein viel besseres Abitur schreiben konnte, als sie sich erhofft hatte und somit ihren Traumstudiengang ergattert hat. Sie hat ihre Energie einfach nur eingeteilt. Aufgeben sollte also als eine Option angesehen werden und ist nicht unbedingt negativ. Aufgeben kann einem so viel geben!

So wahnsinnig viel.

Aufgeben bedeutet nicht aufgeben. Aufgeben bedeutet zu wissen, dass das, was man macht, für einen selbst nicht das Beste ist. Zu wissen, dass das, was man tut einem selbst gerade nur schadet. Aufgeben ist, seine Kräfte sinnvoll einzuteilen, sich selbst zu kennen und sich neue Türen zu öffnen. Aufgeben bedeutet nicht, dass man nie wieder an diese eine Sache denken muss. Es kann auch einfach bedeuten, sich seine Prioritäten neu einzuteilen.

Manchmal können sich aus dem Aufgeben so wahnsinnig tolle Möglichkeiten ergeben, die man sonst vielleicht nie gesehen hätte.

Ich hatte beschlossen den Führerschein weiterzumachen. Aber zu wissen, dass AUFGEBEN EINE OPTION war und das meiner Gesundheit auch hätte sehr weiterhelfen können, war ein großer Schritt. Du musst deine „Prioritäten nicht umschichten“, aber du solltest wissen, dass es möglich ist. Du solltest wissen, dass du es verdienst deine Güter zu fördern und deine Konzentration auf wichtige Dinge zu lenken. Du solltest bevor du eine Entscheidung triffst einfach nur ALLE Möglichkeiten, die du hast durchgegangen sein. ALLE.

Aufgeben ist eine Option. Das ist also eine wahnsinnige Erkenntnis, die mir meine Therapeutin da mitgegeben hat und für welche ich sehr dankbar bin.

Veröffentlicht von mayyoulive

g e t b u s y l i v i n g

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